Das programmierte Chaos: Das Baby ist da!
Viele Jahre hatte ich geglaubt, eine dreistündige Besprechung mit Vorgesetzten und wichtigen Kunden sei eine geistige Herausforderung; ein 20-Kilometer- Lauf durch die City einer deutschen Großstadt eine körperliche Höchstleistung; und ein zweiwöchiger Urlaub mit den Schwiegereltern eine psychische Grenzbelastung. Doch dann zog „er“ in unseren Haushalt ein und zeigte mir, dass mein bisheriges Leben ein Kinderspiel gewesen war: mein Sohn Jan, vier Tage alt, 3.720 Gramm schwer, energiegeladen wie Michael Ballack, stimmgewaltig wie Luciano Pavarotti und originell wie Bugs Bunny.
Raus aus der Klinik…
„Können wir nicht noch bis morgen bleiben?“, hatte ich die Krankenschwester intuitiv gefragt, als sie mir eröffnete, mein Sohn und ich könnten die Klinik gleich nach der Visite verlassen. Doch sie lehnte lächelnd ab. Zugegeben, die Geburt war komplikationslos verlaufen, Jan entwickelte sich prächtig und ich fühlte mich körperlich schon wieder fit. Logische Argumente, den Krankenhausaufenthalt noch ein wenig zu verlängern, gab es nicht. Also musste ich das gemütliche Doppelzimmer mit Vollpension räumen, um mich dem Leben einer frisch gebackenen jungen Mutter zu stellen.
„Wir schaffen das zu dritt schon“, machte mir mein Mann Tobias Mut, als er uns aus dem Krankenhaus abholte. Und für die nächste Stunde behielt er Recht: Gleich im Auto schlief Jan friedlich ein und wurde auch nicht wach, als wir ihn vorsichtig in die Wohnung trugen. Die Gunst der Stunde nutzend, packte mein Mann gleich seine Aktentasche, um im Büro „nur mal eben nach der Post zu gucken“.
…und rein ins Chaos
Doch kaum fiel das Schloss hinter ihm in die Tür, schlug Jan seine kleinen Babyaugen auf und begann fürchterlich zu schreien. Seit Monaten hatte ich für diesen Augenblick trainiert und spulte automatisch das richtige Programm ab: Stillen, Bäuerchen machen lassen, wickeln, schmusen, wieder ins Bettchen legen und… Pustekuchen: Anstatt wieder friedlich einzuschlafen, brüllte Jan in seinem nagelneuen „Viersterne-Bettchen“ wie am Spieß. Also nahm ich meinen Sohn auf den Arm, lief mit ihm durchs Wohnzimmer, summte „Schlaf, Kindchen, schlaf“ und wartete. Die Kombination aus rhythmischen Bewegungen und sanften Tönen schien Jan zu gefallen, doch sobald ich das Gehtempo oder die Melodie veränderte, ging das Geschrei von Neuem los.
Nach einem Halbmarathon durchs Wohnzimmer und der 100. Wiederholung des beliebten Kinderliedes kam mir spontan der Mann in den Sinn, der „nur mal eben Zigaretten holen ging“ und nie mehr wiederkam. Vielleicht war die Post nur ein Alibi gewesen? Vielleicht war mein Mann gar nicht im Büro, sondern längst auf dem Weg nach Hawaii? Ich dachte über mein trauriges Schicksal nach, als Tobias plötzlich strahlend in der Tür stand. Kommentarlos drückte ich ihm das Brüllbaby auf den Arm, und das nächste Wunder geschah: Jan schloss die kleinen Babyaugen und schlief auf Papas Arm ein.
Verunsicherte Eltern…
Nach einer Stunde lag der Kleine immer noch im Bett und schlummerte friedlich, was uns jedoch auch nicht so richtig glücklich machte. „Er rührt sich nicht. Sollen wir mal gucken, ob alles okay ist?“, brachte Tobias die elterliche Sorge schließlich auf den Punkt. Ich war gleich einverstanden und dankbar, dass nicht ich diese „idiotischen“ Bedenken hatte äußern müssen. Also schlichen wir auf Zehenspitzen ins Kinderzimmer, um Jan zu untersuchen: Herzschlag, Atmung, Hautfarbe – alles schien vorhanden und unauffällig zu sein. „Aber liegt er nicht ein bisschen zu weit oben im Bett?,“ verkomplizierte Tobias die Begutachtung. „Wir können ihn ja ein Stück nach unten ziehen“, willigte ich ein.
Um Körperfunktionen und Schlafposition unseres Sohnes besser kontrollieren zu können, entschieden wir, Jans Schlaf vorsichtshalber zu bewachen. Also machten wir es uns im Kinderzimmer bequem und schliefen kurz darauf beide auf dem Teppich ein. Unser Baby träumte fast drei Stunden, und als uns sein lautes Gebrüll weckte, hatte ich das Gefühl, meinen Körper nicht mehr bewegen zu können. Rücken, Arme, Beine, Hals – alles schmerzte vom Liegen auf dem harten Teppichboden. Auch Tobias hatte größte Probleme beim Aufstehen. Also entschieden wir, Jans Schlaf künftig nur noch via Babyfon aus der Ferne zu überwachen.
…und ein munteres Baby
Viel zu tun hatten wir damit in den nächsten Tagen jedoch nicht. Denn Jan hielt nichts von der babytypischen Angewohnheit, einen Großteil des Tages zu verschlafen. Oft war er wach und brüllte. Wir schleppten das winzige Menschlein stundenlang durch die Wohnung, versuchten, ihn mit einer Fahrt im Kinderwagen zu beruhigen, wickelten wie die Weltmeister, sangen, summten, tanzten – und Jan brüllte. „Fahrt doch mal mit dem Auto um den Block. Da schlafen die meisten Kinder ein“, riet mir meine Freundin Sonja, erfahrene Mutter von drei Kindern. Also packten wir unseren Sohn in den Kombi und fuhren los. Der Versuch glückte: Nach fünf hartnäckigen Schreiminuten, seufzte Jan noch einmal tief und schlummerte dann friedlich. Tobias und ich waren unendlich erleichtert, fühlten uns unbeschwert, verdrängten jeden Gedanken an Benzinpreise, Ölkrisen und Umweltschutz. Drei herrliche Stunden fuhren wir auf der A 3 und genossen die unendliche Stille, das Leben, die Freiheit.
Ist es die Schwiegermutter…
Am nächsten Morgen erzählte ich meiner Schwiegermutter von unserem geglückten Ausflug. Ein Fehler, wie sich herausstellte. Denn an Tobias Verstand und meiner mütterlichen Kompetenz zweifelnd, fasste die energische Dame gleich einen Entschluss. „Ich komme mal vorbei, um euch unter die Arme zu greifen“, drohte sie und legte den Hörer auf. Ich geriet spontan in Panik. Tobias war mal wieder „nach der Post gucken“, Jan musste jeden Augenblick wach werden und unsere Wohnung sah aus wie eine Müllkippe: Die Krankenhaustasche lag immer noch unbeachtet in der Diele, auf dem Wohnzimmertisch türmte sich ein Mix aus Pizzablitz- Packungen, Milchbildungstees und Glückwunschkarten, im Bad quoll der Windeleimer über und im Schlafzimmer herrschte ein unüberschaubares Wäsche-Chaos.
Ich rechnete fieberhaft: Eine halbe Stunde würde meine Schwiegermutter mit dem Bus brauchen, um zu uns zu kommen, zwei Arbeitstage würde ich – ohne Baby – brauchen, um die Wohnung in einen „Schwiegermutter-tauglichen“ Zustand zu versetzen. Blieb eine Differenz von etwa 15,5 Arbeitsstunden. Also verwarf ich den Gedanken ans Aufräumen und entschied mich, total cool zu bleiben.
…oder kommt die Hebamme?
Als es kurz darauf klingelte, stand ich mit Schlafshirt und zerzaustem Haar in der Tür, Jan schrie mal wieder und in der Wohnung herrschte immer noch Chaos. Doch auf der Treppe erblickte ich nicht etwa meine Schwiegermutter, sondern meine Hebamme Martina, deren Besuch ich in der Hektik ganz vergessen hatte. „Du hast ja ’ne neue Frisur“, begrüßte sie mich lachend. Dann kochte Martina uns einen frischen Tee, äußerte sich zufrieden über Jans rosige Hautfarbe und seine prächtige Entwicklung, lachte herzhaft über unseren Familienausflug und gab mir zu verstehen, dass „harte“ erste Babywochen vollkommen normal seien.
Zum ersten Mal seit unserer Ankunft zu Hause hatte ich das Gefühl, weder verrückt zu sein, noch es zu werden. „Alles ganz normal!“, wiederholte ich und tanzte dabei glücklich durchs Wohnzimmer. Als dann auch noch das Telefon klingelte, und meine Schwiegermutter ihren Besuch leider verschieben musste, war die Welt wieder in Ordnung. Ich betrachtete meinen brüllenden Sohn, das verwüstete Wohnzimmer, mein seltsames Aussehen und hatte plötzlich das tolle Gefühl, mitten im Leben zu sein.
geschrieben von: Ja zum Baby
Foto: © Gleam – Fotolia.com